Lisa Gast | Leseproben
Ein Jahr auf den Kanaren: Surfen und Gleitschirmfliegen auf Lanzarote, mit dem Flugzeug über die Berge von Gran Canaria, zwischen Walen und Delfinen auf Teneriffa, Abendessen mit Weltumseglern auf Fuerteventura, zu Gast bei Hippies auf La Gomera und bei Höhlenbewohnern auf La Palma. Ein Jahr voller Überraschungen und ein wenig Alltag. Ein Jahr voller Kontraste: zwischen Bergen und Meer, Wüste und Urwald, Großstädten und Höhlenbewohnern. Ein Jahr auf den Kanaren.
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Teneriffa


 

An einem anderen ungeraden Tag liege ich auf dem Bauch ganz vorn im Netz eines Katamarans und schwebe über die Wellen. Dass mir der beste Platz auf dem gesamten Boot zugeteilt wurde, liegt am Mitleid der Besatzung, dass ich als Einzige ohne Begleitung hier bin. Crewmitglied und Walexperte Rodrigo hatte das bemerkt, als beim Boarden jede Familie oder jedes Paar zusammen fotografiert wurde und ich auf die Frage, mit wem ich hier sei, wahrheitsgemäß geantwortet hatte.

     „Oh, tut mir leid. Wie schwer bist du?“

     Ich wurde nicht schlau aus seiner Antwort, vor allem nicht aus dieser merkwürdigen Kombination von seinem Bedauern über mein Singledasein und seiner Frage nach meinem Gewicht. Wäre ich schwer wie einer der Wale, könnte ich vielleicht einen – wenn auch nicht sehr netten – Zusammenhang herstellen.

     „Wie schwer?“, fragt Rodrigo wieder und scheint zufrieden mit meiner Antwort, denn jetzt deutet er mit einer verschwörerischen Kopfbewegung in Richtung Bug. Das war es also: Ich darf in einem der beiden Netze Platz nehmen, das andere bekommen zwei Kinder.

     Ich scanne konzentriert die gesamte Wasseroberfläche ab, meine Augen wandern hin und her und versuchen, so weit wie möglich zum Horizont zu schauen. Ich weiß nicht einmal genau, wonach ich Ausschau halten muss. Nach einer Schwanzflosse vielleicht, die ins Meer abtaucht, oder einem großen grauen Fleck unter der Oberfläche? Delfine und Wale auf offenem Meer zu sehen war lange ein Traum von mir.

     Dann plötzlich, paff, genau unter mir. Wasser spritzt. Klitschnass starre ich ihn an, den Pilotwal direkt unter mir. Mein Herz rast vor Schreck. Damit habe ich nicht gerechnet, so unmittelbar und ohne Vorwarnung. Würde ich meinen Arm durch das Netz ausstrecken, könnte ich ihn berühren. Sein dunkler Körper erscheint mir riesig aus der Nähe, dabei ist er mit seinen maximal sieben Metern eher einer der kleineren Wale. Automatisch will ich die anderen rufen, doch ich unterdrücke diesen Impuls. Das ist mein Moment, ich will ihn für mich haben. Möchte nicht, dass sich die achtzig anderen Köpfe und Kameras um mich drängen. Noch nicht. Und so schweben der Wal und ich in gleicher Geschwindigkeit durchs und übers Wasser, manchmal weniger als einen Meter voneinander entfernt. In diesem Moment vergesse ich alles: die Ballerman-Musik, die über den Katamaran dröhnt, die Menschen hinter mir, die nach einem Übermaß an Sangria, Sonne und Seegang kotzend über der Reling hängen. Nur ich und der Wal und meine Ehrfurcht vor ihm. Meine Kamera bleibt im Rucksack, ich will den Moment aufsaugen, jedes Detail.

     Erst langsam tauchen meine anderen Sinneswahrnehmungen wieder in meinem Bewusstsein auf: zuerst die kalten Wasserspritzer auf meiner Haut, die Geschwindigkeit und der Fahrtwind auf meinem Körper, dann die abwechselnde Leichtigkeit und Schwere bei jedem Auf und Ab mit den Wellen, die Hitze, mit der die Sonne auf meinen Rücken brennt, der Geschmack von Salzwasser auf meinen Lippen. Jetzt haben auch die Kids neben mir den Wal entdeckt und damit unsere Zweisamkeit beendet. Alle achtzig Menschen an Bord drängen sich nun um mein Netz, und Rodrigo ist damit beschäftigt, in allen denkbaren europäischen Sprachen die Leute davon abzuhalten, auf mein Netz zu treten. Nur er und ich wissen, dass ich dem Wal und vor allem der scharfen Unterseite des Katamarans sonst näher kommen könnte, als mir lieb ist. Sicherheitshalber – und weil es sich sonderbar anfühlt, nur im Bikini unterhalb all dieser Kameras über dem Wal zu liegen – klettere ich heraus und gebe meinen Platz und die Sicht für alle frei. Mein ganzer Körper ist überzogen von dem Abdruck des Netzes. Jetzt höre ich auch die Musik wieder, und der Moment ist vorbei.

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Lanzarote


 

Obwohl wir durch die Yoga-Übungen bereits aufgewärmt sind, scheucht uns Juan über den Strand. Jedes Mal, wenn er klatscht, stoppen wir unseren Sprint, schmeißen uns auf den Boden und versuchen dann einen „Pop-up“. Das Ganze sieht zu Beginn aus wie eine Liegestütze und endet bei allen anderen damit, dass sie Millisekunden später in einer lässigen Surferpose stehen. Unklar ist mir noch der kurze Mittelteil. Juan winkt mich heraus, und jetzt darf ich mich allein mit ihm auf den Boden werfen und wieder in Position hüpfen. Also gut, noch einmal: flach auf den Boden schmeißen, Sand ausspucken, Arme angewinkelt auf Brusthöhe abstützen, Zehen aufstellen und dann mit Muskelkraft und Körperspannung blitzschnell hochspringen, ohne mit weiteren Körperteilen den Boden zu berühren. Und ich weiß nicht einmal, welches meiner Beine dabei das vordere sein soll. Unerwartet schubst mich Juan nach vorn, ich fange mich mit dem rechten Bein ab.

     „Ah, du bist ein Goofy“, verkündet er.

     „Ein was?“

     „Na, ein Goofy, einer, der mit dem rechten Bein nach vorn surft.“

     „Und wie heißen die, die mit links …?“

     „Das sind die Regular oder Natural.“

     Na toll, ich bin also nicht nur die einzige Neue, sondern auch noch ein Goofy. Soweit ich den Freund von Mickey Mouse und Donald Duck in Erinnerung habe, ist er nicht sonderlich sportlich oder geschickt. Sicherheitshalber schlage ich „goofy“ später einmal nach: albern, doof, vertrottelt, trottelig. – Prima!

     Da liegen wir also nun wie frisch geschlüpfte Schildkröten im Sand, paddeln mit den Armen in der Luft und wissen instinktiv, dass wir nur noch ins Wasser gehören. Umzingelt von ungeniert gaffenden Zuschauern, die uns vermutlich weniger niedlich als Babyschildkröten finden.

     Endlich dürfen wir ins Wasser. Vorbei mit den schlimmsten Peinlichkeiten? Von wegen! Das, was wir Anfänger hier treiben, hat nichts mit jenen Surfern zu tun, die anmutig große Wellen reiten. Es ist so cool und sexy wie der Ententanz. Wir schieben unser Board bis ins schultertiefe Wasser, um in dem Bereich zu bleiben, in dem sich die Wellen schon gebrochen haben. „Weißwasser ist ungefährlicher für Anfänger“, hatte Juan gesagt. Wir warten auf eine Welle – irgendeine; welche besonders gut ist, können wir ja doch noch nicht einschätzen – und krabbeln dann – irgendwie – aufs Board. Keiner der Anfänger benutzt die zuvor geübte Pop-up-Technik. Immerhin, das beruhigt mich.

     Die nächsten zwei Stunden lerne ich, auf wie viele verschiedene Arten man ins Wasser fallen kann, und verstehe, wofür wir Anfänger diese riesigen Softboards bekommen haben – weich, abgerundet und mit weniger scharfkantigen Finnen als an den kurzen, spitzen Hardboards der Profis. Ein paar Mal gelingt es mir sogar, schon beim Paddeln abzusaufen. Dann nämlich, wenn die Welle naht und ich die Spitze meines Boards leicht nach unten drücken will, um ein letztes bisschen Fahrt aufzuholen, bevor ich meinen „Aufstieg“ wage. Übertreibe ich es, bohrt sich mein Surfbrett vor mir unters Wasser, und kurz darauf lege ich die peinlichste Variante des Abstiegs hin: Mit der Nase voran stoße ich ins Wasser. Das Brett bremst abrupt ab, ich rutsche nach vorn übers Board, das hinter mir in die Höhe schnellt und meine Beine gerade noch mit aus dem Wasser reißen kann, die nun als letzter sichtbarer Körperteil von mir angewinkelt und gespreizt steil aus dem Wasser ragen, bis ich komplett versunken bin. Leider nicht im Erdboden.

     Aus meiner Sicht lief es ungefähr so: „Oh, Wasser auf Boardspitze: schlecht. Mehr Wasser, ich bremse: noch schlechter. Ups, noch mehr Wasser und Sand. War ich schon so flach? Hilfe, brauche Luft. Ah! Deshalb vorher einatmen. Wo sind meine Beine? Komische Position. Und mein Board? O Gott, Kopf schützen!“ Nun stecke ich also im flachen Wasser im Sand und halte meine Arme um meinen Kopf, während mein neongelbes Board neben mir ins Wasser klatscht. Als ich mich umschaue, ob jemand meinen peinlichen Abgang bemerkt hat, blicke ich genau in Juans Videokamera. Am nächsten Morgen bei der Auswertung der Videos kann ich mich, zusammen mit allen anderen, davon überzeugen, dass es von außen betrachtet wirklich so „goofy“ aussah, wie es sich von innen angefühlt hat.

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Gran Canaria


 

Im Café am Gate lese ich gedankenversunken mein Fliegermagazin „Avion & Piloto“. Als ich aufschaue, steht er plötzlich vor mir. Einfach so, direkt gegenüber. Statt auf mich, schaut er allerdings auf die Bocadillo-Auswahl in der Theke hinter mir. Er könnte gut einer der Anzeigen in meinem Magazin entsprungen sein: „Werde Pilot mit Spaniens führender Flugschule!“, darunter das Foto eines Kapitäns und seiner lachenden Crew. Oder so ähnlich. Er ist groß, schlank und sieht umwerfend aus in seiner dunkelblauen Uniform.

     Ich verhalte mich bereits peinlich. Das bemerke ich daran, dass ich bewusst versuche, „normal“ zu wirken. Ich versuche krampfhaft, möglichst lässig dazusitzen, mein Magazin zu lesen und meinen Kaffee zu trinken. Stattdessen überfliegen meine Augen den eben noch so interessanten Artikel nur, kein Wort davon wird von meinem Gehirn mehr zu Sinn verarbeitet. Immer wieder muss ich mich zwingen, ihn nicht zu offensichtlich zu beobachten. Ich verbiete mir auch, häufiger als einmal meine Haare mit den Fingern zu richten. Auf die Schnelle kommt da jetzt wohl kein neues Volumen mehr rein.

     „Ihr Binter-Canarias-Flug nach Lanzarote steht nun zum Einsteigen bereit.“

     Jetzt hängt alles am richtigen Timing. Ich passe den Moment ab, in dem seine Kollegen beginnen, ihren Tisch abzuräumen, und stelle mich in die Warteschlange. Und tatsächlich: Er, sein Copilot und zwei männliche Flugbegleiter, die offensichtlich Gefallen aneinander gefunden haben, stellen sich hinter mir an. Gleichzeitig kontrolliert je eine Binter-Mitarbeiterin unsere Bordkarten. Genug Zeit, heimlich rüberzuschielen. Was ich sehe, gefällt mir: einen deutschen Pass und ringfreie Finger.

     Ob seine Wahl zufällig war? Jedenfalls setzt er sich im Flugzeug genau hinter mich. Vorsorglich hatte ich eine Sitzreihe gewählt, hinter der noch eine frei war. Den gesamten Flug über starre ich immer wieder aus dem Fenster und drehe mich dabei möglichst weit zu ihm, um ihm Gelegenheit zu geben, mich anzusprechen. Macht er aber nicht. Dann beantworte ich auf meinem iPad Theoriefragen zur Privatpilotenlizenz. Das tue ich zwar in letzter Zeit häufiger, wenn ich Fahrtzeiten sinnvoll nutzen will, aber üblicherweise nicht auf Flügen, da schaue ich lieber aus dem Fenster. Dass ich es diesmal trotzdem tue, hat eher damit zu tun, dass ich ihm den Einstieg ins Gespräch erleichtern möchte. Dabei habe ich keine Ahnung, ob er daran auch nur das geringste Interesse hat. Wenn ich ehrlich zu mir bin, vermute ich, dass er mich noch nicht einmal bemerkt hat und in Gedanken vielleicht bei seiner Frau und seinen Kindern ist. Warum sollte er auch Single sein, nur weil er keinen Ring trägt?

     In meiner Fantasie gehe ich all die spannenden Möglichkeiten durch, wie er mich ansprechen könnte. Unter uns tauchen die Papagayo-Strände auf und mit ihnen die Euphorie, die ich schon bei meiner ersten Ankunft hier gespürt hatte.

     „Flight attendants, prepare for landing, please.“ Die Ansage aus dem Cockpit reißt mich aus meinen Tagträumen. Abgelenkt durch meine Gedanken, habe ich eine Weile nicht die richtige Antwort ausgewählt. Plötzlich tippt er von hinten auf die Lösung, seinen Arm mühsam durch den schmalen Spalt zwischen den Lehnen gestreckt. Das war die letzte Frage aus dem Themenblock, und mein Lernprogramm teilt mir mit einem lauten Tusch und einem Feuerwerk auf dem Bildschirm mit: „Herzlichen Glückwunsch! Sie haben gewonnen. Alles richtig gemacht!“ Ich muss lachen. Ob mein Programm da nicht ein bisschen vorschnell urteilt? Immerhin hat das Spiel begonnen.

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